Re-Authoring Futures – vom Wahn der Machbarkeit und der Last, wissend zu sein
Nobelpreisträger John C. Eccles, ein australischer Mediziner und Neurophysiologie, schrieb in den 30ern sinngemäß, dass wir Menschen zu intelligent seien, um nicht um unseren Tod zu wissen. Doch dass wir zugleich zu begrenzt seien, um mit diesem Wissen umgehen zu können...
Das Bedeutungsfeld, das sich hinter den Worten „Re-Authoring Futures“ auftut, erinnert mich an diese Erkenntnis:
Es scheint, als wären wir Menschen zu intelligent, um einfach im Hier und Jetzt zu leben und die Zukunft außer Acht zu lassen – wir wissen, dass es eine Zukunft gibt, wie wir auch wissen, dass es in dieser Zukunft unseren Tod gibt.
Dieses Wissen wirft uns in hohem Bogen aus dem Paradies des sorgenfreien Lebens in der Gegenwart, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Das Wissen um die Existenz einer Zukunft zwingt uns auf, Verantwortung für das morgen zu übernehmen.
Schon der allererste Bauer vor Tausenden von Jahren lebte nicht mehr im mentalen Paradies des Hier und Jetzt – er wusste aus der Erfahrung, dass es Jahreszeiten gibt und dass sich diese in der Zukunft immer wieder einfinden werden. Ein Leben im Hier und Jetzt wäre schlicht fahrlässig und dumm gewesen, denn wer vor dem Winter die Ernte nicht einfährt, überlebte eben diesen Winter, den die Zukunft bringt, nicht. Das Wissen um die Zukunft befähigte uns, sich auf die erwarteten Ereignisse in dieser Zukunft vorzubereiten.
Dennoch gab es lange Zeit eine unsichtbare Linie, die zwischen dem Menschen und seiner Zukunft stand: denn die Zukunft an sich galt jahrtausendelang als nicht beeinflussbar. Man konnte sich zwar mehr oder weniger gut auf sie vorbereiten. Doch zu ändern war sie nicht. Nur Gott hielt die Würfel in der Hand.
Aber der Mensch machte hier nicht halt. Spätestens in der Zeit der Aufklärung nahm der Mensch die Würfel zunehmend in die eigenen Hände: mehr und mehr nämlich schwanden im Zuge der Aufklärung und des Erkenntnisgewinnes in den Wissenschaften die Kräfte und Mächte außerhalb unseres Selbst. Der Glaube an die Allmacht Gottes wurde in dem Maße schwächer, wie die Appelle an die Eigenverantwortung des Menschen für sein eigenes Schicksal sich häuften. Die Machbarkeit des Selbst und die Ideologie des Freiheits- und Autonomiediskurses des Individuums gipfeln in einem Menschenbild der Moderne, dass alles möglich sei und das dem Selbst die ausschließliche Verantwortung überschreibt, „aus der Fülle der Möglichkeiten das je eigene „gelingende“ Leben zu stricken.“ *
Ist nun der Ruf nach Re-Authoring Futures, nach dem Neu-Erzählen der eigenen Zukunft auch ein Echo aus der Moderne des vergangenen Jahrhunderts? Steckt dahinter die Überschätzung des Selbst, alles selbst in die Hand nehmen zu können, zu dürfen und letztendlich auch zu müssen?
Oder ist es schon Kind der Postmoderne, die wiederum alles linear Vorhersagbare, Stabile und auf ein Fortschritts-Ziel hinstrebende Denken ablehnt?
„Entsprechend den Vorstellungen der Postmoderne wird die Idee eines unausweichlichen linearen Fortschritts, der sich in Richtung auf ein zukünftiges, von allen geteiltes, utopisches Ideal bewegt, verworfen. Große Erzählungen wie z. B. Ideologien, die der Geschichte einen Sinn geben, werden abgelehnt.“**
Ist „Re-Authoring Futures“ daher ein Aufruf zum Neu-Finden eines Sinnes, der eben jenseits der alten Zukunftserzählung des linearen Fortschritts liegt?
Der Wunsch, die Zukunft neu zu erzählen, kommt mir vor wie ein Hilferuf: wir wissen nun dank der kritischen Auseinandersetzung der Postmoderne, dass wir uns doch nicht auf einer Einbahnstraße in den Fortschritt befinden. Wir ahnen, dass die Zukunft weniger vorhersagbar ist als uns vielleicht lieb ist.
Das Einzige, was im kollektiven Bild von der Zukunft von allen geteilt wird, ist die Erwartung, dass diese Zukunft „VUCA“ wird – unbeständig, unsicher, komplex und mehrdeutig. Aber wir können mit der unendlichen Weite des Möglichkeitenlandes, das vor uns liegt, nicht umgehen. Wir suchen nach neuen Wegmarken**, die uns durch diese VUCA-Zukunft führen. Vielleicht sucht der ein oder andere sogar nach neuen Göttern, die uns erlösen von der Last der Eigenverantwortung und uns an die Hand nehmen auf dem Weg in die Zukunft - das könnte einen Teil der irrsinnigen Dynamik erklären, warum Autokraten und Despoten auf der westlichen wie östlichen Weltbühne plötzlich wieder mehr Aufwind haben.
Fest steht für mich nur eines: Wir sind zu intelligent, um die Zukunft außer Acht zu lassen. Doch wir sind andererseits zu begrenzt, um aushalten zu können, dass es vielleicht weder Gott noch der Mensch sind, der die Würfel in der Hand hält.
Es bleiben das Aushandeln, das Herantasten, das Erfühlen und Erfragen von möglichen Zukünften. Es bleiben das Planen und wieder Verwerfen und Neuversuchen von Wegen in die Zukunft. Denn einfach im Hier und Jetzt innehalten und die Zukunft geschehen lassen, liegt seit dem Rauswurf aus dem mentalen Paradies der Unwissenheit außerhalb unserer Möglichkeiten.
Eine Brücke kann uns aber John Eccles in seinen späteren Werken bauen: er glaubte fest an ein Weiterbestehen der Seele über den Tod hinaus – eine interessante Antwort auf seine eigene Erkenntnis, dass wir unseren eigenen Tod niemals wirklich intellektuell erfassen können! 😊
Wie lautet der Vergleich für das Postulat „Re-Authoring Futures“? Lasst uns aus der Not einer VUCA-Zukunft ohne Wegmarken eine Tugend machen und viele verschiedene neue Zukünfte ersinnen! Vielleicht können wir so doch ein wenig mitwürfeln beim Gestalten der Zukunft – auf jeden Fall sind wir dann, wenn wir uns die Zukunft neu erzählen, wie der allererste Bauer vor tausenden von Jahren ein wenig besser vorbereitet auf eine dieser möglichen Zukünfte...
Auf unserem diesjährigen BEYOND STORYTELLING-Kongress werden wir ein Stück des Weges ins Möglichkeitenland gehen und die ein oder andere Wegmarke setzen: wir betrachten die Vielfalt der narrativen Konzepte hinter "Re-Authoring Futures" und werden der Frage nachgehen, welche Unterstützung narrative Herangehensweisen Organisationen beim Neu-Erzählen ihrer Zukunft bieten können.
*Keupp, H. (2016): Ambivalenzen spätmoderner Identitäten: Vom proteischen Selbst in den neuen Arbeitswelten. In: Zeitschrift GIO – Gruppe. Interaktion. Organisation (2016) Heft 47, S. 23-30. Springer Verlag.
** Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Proteische_Pers%C3%B6nlichkeit (Zugriff: 05.03.2018)
*** Danke an Wolfgang Tonninger für diese wundervolle Metapher! Tonninger, W. & Bräu, U. (2016): Wegmarken im Möglichkeitenland - Wie der narrative Zugang Menschen und Unternehmen beweglicher macht. Carl Auer Verlag: Heidelberg.