Letzten Freitag Vormittag, 10:30 Uhr. Mein Puffer für die Anreise war größer als sonst, ich wollte auf jeden Fall ausreichend Zeit im Meetingraum haben, um anzukommen und mich zu sammeln. Selten war ich so nervös, wenn es um eine Präsentation ging.
Ich sollte einem knappen Dutzend der Top-Führungskräfte eines großen Stahlherstellers einen Ergebnisbericht zum Rollout einer Workshop-Reihe mit dem vielversprechenden Titel „Workshop zur Stärkung der Compliance-Kultur“ liefern. Ich sollte dem Topmanagement erzählen, ob diese großflächige Intervention bei den rund 400 Führungskräften im mittleren Management bis zu den Meistern in der Fertigung den Wert „Compliance“ auf den Weg gebracht hat.
Im Vergleich zur Durchführung der Workshops an sich keine schwere Aufgabe! Denn ich hatte nach dutzenden Durchführungen dieses Workshops genügend Meinungen, Geschichten, Stimmungsbilder und Appelle der Teilnehmer gesammelt, um der Führungsetage ein sehr detailliertes Feedback geben zu können, wie es um den Wert Compliance bestellt ist.
Der einzige Haken an der Sache: ich hatte keine guten Nachrichten für meine Zuhörer! Ich konnte nicht berichten, dass der x-fach durchgeführte Workshop zur Stärkung der Compliance-Kultur an den Einstellungen der Mitarbeiter, an deren Werten und Überzeugungen auch nur irgendetwas geändert hat.
Natürlich musste es ausgerechnet heute eine lange Verzögerung am Empfang durch die Formalien des Werkschutzes geben, natürlich klappte die Technik nicht auf Anhieb… Prompt fand ich mich zeitgleich mit den Topmanagern im Raum, denen ich mich gleich als die Botin von schlechten Nachrichten outen musste:
„Ihre Intervention mit dem Ziel, mehr Bewusstsein für Compliance-konformes Handeln zu schaffen, wird missverstanden als ein katastrophaler Urteilsspruch des Topmanagements an die Mannschaft: „Ihr werdet in diese Workshops geschickt, weil Ihr nicht Compliance-konform handelt!“ Dementsprechend zieht sich die Mannschaft zurück und wartet tief gekränkt ab, bis alle Aktivitäten und Schulungen zu Compliance wieder Vergangenheit sind und bis das Management zum erneuten Angriff auf sie mit einem neuen Changeprogramm rüsten wird.“
Doch wie konnte es geschehen, dass eine nach besten Wissen und Gewissen aufgesetzte Kommunikationsstrategie, die eigentlich nur mit konkreten Fallbeispielen für die Notwendigkeit von Compliance-konformen Handeln warb und sich der Aufklärung durch Sachinformationen widmete, dass also eine als Hilfestellung gedachte Kommunikationsstrategie so fatal missverstanden wurde?
Change-Management hat mächtige Gegner oder aber Verbündete: die Narrationen im Unternehmensgedächtnis
Der Konzern blickt auf eine lange Unternehmensgeschichte zurück, in der Werte wie Zusammenhalt, Loyalität, Wir-Gefühl, Ehre und Stolz auf die Hütte gelebt wurden. Niemals wäre man früher auf die Idee gekommen, den Kollegen zu melden, wenn dieser ein Werkzeug mit nach Hause genommen hat! Die Hütte war für alle da, alle waren für die Hütte da! Das Unternehmensgedächtnis liefert unzählige Erzählungen, wie die Meister zusammen mit der Mannschaft einen über den Durst tranken, wie zusammen gegrillt und gefeiert wurde in der Dienstzeit, wie man einander beim Reparieren der Privat-PKWs in den Werkshallen half. „Wir halten zusammen, wir sind die Hütte!“ – diese Botschaft schmolz die Mannschaft, die Führung, den Vorstand zu einem großen sinnstiftenden Ganzen zusammen.
Nun kommt mit „Compliance“ ein neuer Wert daher, der diesen Zusammenhalt scheinbar bedroht: nun soll man sich an Regeln halten, die Kollegen verpfeifen, den Führungskräften Bescheid geben, wenn Unregelmäßigkeiten auffallen. Die Führungskräfte stehen nun plötzlich außerhalb der Gemeinschaft, sie werden zu Wächtern und Kontrolleuren. Und sie formulieren Drohungen: „Wir müssen unser Image beim Kunden retten, sonst verlieren wir unseren Arbeitsplatz!“ „Wer nicht Compliance-konform handelt, wird gekündigt!“
Was mich also wirklich nervös machte, war die Aussicht auf empörte, persönlich gekränkte Reaktionen, denn ich hatte den Entscheidern zu sagen, dass die gesamte Top-Down Kommunikation des Unternehmens zu Compliance aus Negativ-Botschaften bestand und in erster Linie Angst schürte.
Change-Management braucht reflektierte Führungskräfte, positive Botschaften und vor allem eine gemeinsame Vision, die an das Unternehmensgedächtnis andockbar ist!
Sie waren in der Tat erschrocken. Das tiefe Misstrauen ihrer Mitarbeiter in die Führungsetagen und den Vorstand überraschten und beunruhigten sie. Doch das Meeting verlief anders als ich dachte: keiner fühlte sich persönlich angegriffen, alle waren vielmehr ratlos, wie man dem Unternehmensgedächtnis, den tief verwurzelten Erfahrungen der Mitarbeiter, dass es „früher anders und viel besser war“, beikommen könne. Wie können sie ihre Kommunikationsstrategie, ihr Storytelling von Botschaften so verändern, dass der Wert „Compliance“ nicht mehr als Angriff auf die „guten, alten Zeiten“ empfunden wird?
Erst der Vorschlag, die Mitarbeiter nicht länger als potentielle Abweichler und Regelbrecher, sondern als Mitstreiter auf dem Weg zu einer Compliance-Kultur zu betrachten, löste die Spannung im Raum. Es schien, als würden alle von einer Leitidee getragen werden: wir schaffen alle zusammen eine Kultur des Vertrauens und Miteinanders und helfen alle mit, eine Compliance-Kultur zu gestalten.
Was war geschehen? Meine Hypothese: die gemeinsame Leitidee für die Unternehmenskommunikation greift die im Unternehmensgedächtnis bewahrten alten Werte des Zusammenhalts und des Wir-Gefühls auf. Da die Führungskräfte wie auch ihre Mitarbeiter in eben diesem Unternehmen sozialisiert sind, erleben sie das Zurückfinden zu ihren eigenen Werten als Befreiungsschlag. Auf dieser neuen (oder vielmehr wiederentdeckten) Wertebasis konnten die Topmanager nun sehr konstruktiv diskutieren, was zu tun ist, um die Kommunikationsstrategie zu Compliance zu verbessern und ihr Storytelling mit positiven Botschaften zu füllen.
Meine Nervosität legte sich im Laufe des Termins und wich der Hoffnung, dass die Botschaften der vielen Workshop-Teilnehmer, deren Misstrauen und Kränkung gegenüber der Führung, einen wirklichen Change beginnen lassen: den Beginn eines gemeinsamen Gestaltens der Hütte von morgen.
Das ist natürlich ein kleineres Ziel im Vergleich zum ursprünglichen Ziel des Changeprogrammes, den Wert „Compliance“ zu verstetigen – doch: jede Narration von Unternehmenswandel zeigt, dass in Changeprozessen Langmut angesagt ist, denn ein Wertewandel dauert Jahre! Und er braucht eine gemeinsam erzählte Geschichte, die Sinn stiftet und die an das Unternehmensgedächtnis andockbar ist.
Beste Grüße sendet Christine Erlach
(first published here)