Jede Gegenwart hat ihre eigene Vergangenheit: Geschichten und das „Unternehmen im Kopf“

*Image courtesy and copyright of DELTA7. Source: http://er.educause.edu/articles/2016/10/running-a-bi-shop-part-two-building-the-organization.


In Psychologie und Gehirnforschung sind sich viele Forscher mittlerweile darüber einig, dass die Identität eines Individuums zum größten Teil aus den Geschichten speist, die das Individuum über sich selbst erzählt und die in seiner Umwelt über es erzählt werden: Identität wird narrativ konstruiert.

Identität: Wie wir wurden, was wir sind

Überträgt man den Begriff der Identität auf soziale Systeme, auf Organisationen und Unternehmen, so gilt auch hier: Die Identität des Systems wird fundamental bestimmt durch die Geschichten, die in ihm und von ihm erzählt werden. Es sind vor allem die Geschichten darüber, „wie wir wurden, was wir sind“, die Identität eines Unternehmens konstruieren. Diese Geschichten transportieren vor allem auch die inoffiziellen mentalen Systemregeln des Unternehmens, die Regeln, nach denen sich jeder verhält, die aber keiner formulieren kann. Für jeden Change-Prozess ist es entscheidend, ob man diese Systemregeln kennt oder nicht: Nicht wenige Veränderungsprozesse sind gescheitert, weil man gegen unsichtbare Widerstände angerannt ist.

Nun kann man aber diese Systemregeln nicht durch eine klassische Befragung herausbekommen: denn die Mitarbeiter können sie eben selbst nicht bewusst formulieren. Aber man kann sie über die Geschichten der Mitarbeiter finden.  Es ist dabei nötig, diese Geschichten erst einmal entstehen zu lassen im Erzählprozess, und sie dann auf diejenigen unter der Oberfläche liegenden kollektiven, also in allen Geschichten eines Systems vorkommenden, mentalen Systemregeln hin zu analysieren. Diese verborgenen Systemregeln nenne ich das „Unternehmen im Kopf“.

Die narrative Systemlandkarte

Um das Unternehmen im Kopf zu erforschen bitte ich ein nach qualitativen Kriterien gebildetes Sample von Mitarbeitern, ihre Geschichten im Unternehmen, ihre Arbeitsbiographie zu erzählen. Denn erzählte Erlebnisse in ihren jeweiligen Kontexten (Was ist passiert? Wie kam es dazu?) und Herleitungen (Warum ist das passiert? Warum wurde das so gemacht, und nicht anders?) geben Aufschluss darüber, wie das Unternehmen geworden ist, was es ist. Gesammelt werden die Geschichten in narrativen Einzelinterviews, die im Idealfall keine Fragen, sondern nur einen Erzählimpuls benötigen: ,Erzählen Sie doch mal, was vom ersten Tag, an dem Sie hier angefangen haben, bis heute alles passiert ist.‘ Die Menschen erzählen dann ihre persönliche Biografie im Unternehmen. Der Interviewer begleitet die Erzählung durch Hilfestellungen, indem er zum Beispiel nachfragt, wenn der Erzähler über eine bestimmte Phase sehr rasch hinweggeht, gibt aber keine Themen vor (etwa vom Typus: ,Wie ist es bei Ihnen denn mit der Kundenorientierung?‘), denn auch was nicht erzählt wird, ist aussagekräftig. So kommt es beispielsweise nicht allzu selten vor, dass in einem Unternehmen, das sich selbst als kundenorientiert sieht, in 40 einstündigen narrativen Interviews weder das Wort noch das mentale Konzept "Kunde" vorkommt, weder in den Erzählungen der Mitarbeiter noch in denen der Führungskräfte. Den Gesprächspartnern wird dabei absolute Anonymität zugesichert; dem Auftraggeber werden nicht die einzelnen Erzählungen, sondern nur zusammenfassende Ergebnisse vorgestellt: Es wird eine „narrative Systemlandkarte“ entwickelt, in der übergreifende, überindividuelle Geschichten und narrative Modelle abgebildet werden, die einzelne Erzählung von Individuen also vor dem Hintergrund der Systemerzählung zurücktritt: Das Unternehmen wird aus einer Vielzahl und Vielfalt der Einzelperspektiven beleuchtet, und man erhält so ein weites und umfängliches Spektrum der Systemregeln und –Mentalitäten.

Systemregeln sichtbar machen

Die transkribierten Interviews werden dann mit den Methoden der semiotisch-narrativen Analyse ausgewertet; dabei richtet sich das Interesse vor allem auf diejenigen Erlebnisse und Beschreibungen, die in allen Erzählungen ähnlich sind. Denn es sollen ja die Systemregeln beschrieben werden und nicht die (natürlich vorhandenen) individuellen Facetten dieser allgemeinen Regeln. Bei der narrativen Systemlandkarte legt man gewissermaßen diese Geschichten wie Folien übereinander und konzentriert sich auf die allen gemeinsamen Strukturen, die sich bei dieser Durchsicht abzeichnen. Auf der Basis dieser Analyse werden dann die Systemregeln rekonstruiert, das sogenannte ,Unternehmen im Kopf‘.

Ein Beispiel

Eine der wichtigsten Elemente bei der narrativen Systemlandkarte ist die Suche nach dem ,zentralen Ereignis‘, dem hierarchiehöchsten Ereignis. Das zentrale Ereignis markiert den Übergang und Wendepunkt vom Ausgangszustand („früher“) zum Endzustand des Systems – in Mitarbeitererzählungen also dem jetzigen Zustand („heute“). Das auf den ersten Blick überraschende ist, dass dieses zentrale Ereignis von verschiedenen Erzählern aus demselben System immer an derselben Stelle verortet wird. Obwohl jeder Mitarbeiter natürlich seine individuellen Teilgeschichten erzählt und individuell gewichtet,  decken sich alle Erzählungen aus einem System bezüglich des zentralen Ereignisses (im Sinne der Geschichte des Unternehmens, nicht der individuellen Arbeitsbiografie). Das ‚zentrale Ereignis’ scheint also eine wichtige narrative Systemkonstante bezüglich der Realitätskonstruktion innerhalb des Systems zu sein. Ein Indikator, wo dieses zentrale Ereignis liegt, ist das Vorkommen der Begriffe/Konzepte "früher" und ‚heute/jetzt’,  etwa in Aussagen wie: ,Früher war es so und so, aber heute ist es so und so". Dort, wo die Erzähler von ‚früher’ auf ‚heute’ wechseln, liegt das zentrale Ereignis, das das System transformiert hat. Offenbar bildet sich – hier wäre noch genauer zu erforschen, warum innerhalb eines sozialen Systems nach ziemlich kurzer Zeit der Zugehörigkeit bereits die ,große Erzählung' des Systems in den einzelnen Arbeitsbiografien ab. Denn auch die Erzählungen von Befragten, die erst ein Jahr bei einem Unternehmen sind, weisen dieselben Regeln und die Regularitäten auf wie Geschichten von Menschen, die seit Jahren oder Jahrzehnten dem Unternehmen angehören.

Das zentrale Ereignis in den Erzählungen eines Systems ist immer eine Funktion der Gegenwart; es kann sich im Lauf der Zeit auch verändern. In einem Unternehmen haben wir innerhalb von ein paar Jahren zweimal Geschichten gesammelt und narrative Systemlandkarten erstellt. Beim ersten Mal ließ sich das zentrale Ereignis mit folgendem Satz beschreiben: "Früher waren wir ein kreatives, flippiges Unternehmen, dann kamen die Krawattenträger, jetzt sind wir ein bürokratisches Unternehmen". Die Krawattenträger standen in diesem Fall für die Einführung von Controlling. Bei der zweiten Befragung ein paar Jahre später war dann ein mittlerweile stattgefundener Börsengang das zentrale Ereignis. Das zentrale Ereignis in den Geschichten eines Systems ist also immer eine Funktion der Gegenwart und damit letztlich der gegenwärtigen Identität. Das heißt, die Geschichten eines Individuums oder eines Systems, die im Abstand von einiger Zeit erzählt werden, sind nicht einfach eine Addition oder eine Verlängerung des Bisherigen im Sinne einer Ergänzung oder eines Anhangs, sondern alles bisher Erlebte kann in der Erinnerung nun unter einem anderen Lichte erscheinen, weil es vor dem Hintergrund neuer Erfahrungen auch neu bewertet wird: Jede Gegenwart hat ihre eigene Vergangenheit.