The Storytelling Animal

Wir schreiben das Jahr 1944. Marianne Simmel, Enkelin des berühmten Kulturphilosophen Georg Simmel, und ihr Lehrer Fritz Heider veröffentlichen im Rahmen einer Studie an der Harvard Universität einen kleinen Animationsfilm, der für großes Aufsehen sorgt. Dabei ist dieser Film alles andere als reißerisch. Er zeigt ein großes Rechteck mit einer Art Relais auf einer Seite, das auf und zu geht. Und dann gibt es noch zwei schwarze Dreiecke (ein größeres und ein kleineres) und eine kleine schwarze Kreisfläche. Der Film beginnt mit dem größeren Dreieck innerhalb des Rechtecks. Nach kurzer Zeit erscheinen auch der kleine Kreis und das kleine Dreieck. Während das Rechteck auf und zu geht, bewegen sich die geometrischen Formen innerhalb und außerhalb des Rechtecks und um das Rechteck herum. Nach ca. 90 Sekunden verschwinden das kleine Dreieck und der kleine Kreis von der Bildfläche. Ende. Doch sehen sie selbst.

Das Spektakuläre an diesem Film ist nicht, was er zeigt. Das Spektakuläre ist der Film, der in den Köpfen der Betrachter abläuft. So sehen 99% darin eine Allegorie der Verfolgung, die ihnen – genauso wie mir – spätestens dann den Atem raubt, sobald das große Dreieck und der kleine Kreis „allein“ im Rechteck sind: “they don’t see fleshless and bloodless shapes sliding around. They see soap operas: doors slamming, courtship dances, the foiling of a predator.“ (Gottschall, J. (2012), The Storytelling Animal. How stories make us human, p106)

The small triangle and the small circle enter the screen together, like a couple, and the big triangle storms out of his house (the square). The big triangle violently butts the little guy (small triangle) out of the way and herds the protesting heroine (small triangle) back into his house. The big triangle then chases the circle back and forth, trying to work her into a corner. The scene reeks of sexual menace. Eventually the flap in the big square opens, and the small circle flees outside to join the small triangle. The couple (small triangle, small circle) then zip around the screen with the big triangle in hot pursuit. Finally, the happy couple escape, and the big triangle throws a tantrum and smashes his house apart.“ Gottschall (2012), ebenda

Unser Gehirn ist dem Sinn verfallen. Und reagiert allergisch auf alles Unbestimmte, Zufällige, Beliebige. Was das heißt? Dass es die aussagekräftigen Muster einfach hinzuerfindet, wenn sie die Welt ihm vorenthält. Wir „beeigenschaften“ und „vergeschichtlichen“ alles, was uns unterkommt. Wir interpretieren mehr als wir sehen. 83% der Nerven, die das Sehen ausmachen, sehen gar nichts. Nur 17% haben eine Verbindung zur Außenwelt. Wir sehen, was wir sind. Das liegt in unserer Natur.

We are a storytelling animal.

 

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PS: Das Original dieses Blogposts finden Sie auf: https://almblitz.wordpress.com/2016/01/19/the-storytelling-animal